In der Welt des Ausdauersports wird das polarisierte Training oft als Goldstandard für das Training von Athleten angepriesen. Dieses Konzept, bei dem große Teile des Trainings in niedriger Intensität (Zone 1) und kleinere Anteile in hoher Intensität (Zone 3) stattfinden, hat in den letzten Jahren erheblichen Auftrieb erfahren. Doch obwohl viele Blogs, Podcasts und Magazine das Konzept unkritisch propagieren, fehlt es an solider wissenschaftlicher Evidenz, die dessen Überlegenheit über andere Trainingsmodelle stützt. Eine aktuelle Analyse von Burnley, Bearden und Jones (2021) hinterfragt kritisch, ob polarisiertes Training wirklich die optimale Wahl für Ausdauersportler ist.

Trainingszonen

Abbildung 1: Trainingszonen entsprechend dem 3-Zonen-Model (adaptiert nach Seiler und Tønnessen, 2009)

Was ist polarisiertes Training?

Polarisiertes Training basiert auf der sogenannten „80/20-Regel“, wonach 80 % der Trainingseinheiten in Zone 1 (niedrige Intensität) und 20 % in Zone 3 (hohe Intensität) absolviert werden sollen. Diese Zonen basieren auf metabolischen Schwellenwerten wie der Laktatschwelle und der Critical Power. Im Gegensatz dazu wird Training in mittlerer Intensität (Zone 2; Anmerkung: hierbei handelt es sich nicht um die u.a. von Iñigo San Millán propagierte Zone 2 – siehe Abb. 1) weitgehend vermieden. Diese Trainingsintensitätsverteilung wird oft als „polarisiert“ bezeichnet, da sie extreme Intensitäten bevorzugt und Zwischenintensitäten ausschließt.

Doch hier liegt bereits das erste Problem: Die Definition von „niedriger“ und „hoher“ Intensität sowie die genaue Abgrenzung der Zonen ist in der Literatur uneinheitlich und wird oft willkürlich vorgenommen. Die Autoren argumentieren, dass diese inkonsistente Klassifizierung zu Fehlinterpretationen führt und die vermeintliche Überlegenheit des polarisierten Trainings in Frage stellt.

Pyramidal statt polarisiert

Eine zentrale Kritik der Autoren ist, dass viele Studien, die für polarisiertes Training sprechen, auf falschen Annahmen beruhen. Tatsächlich zeigen Analysen von Trainingsprotokollen elitärer Ausdauersportler, dass die meisten von ihnen ein sogenanntes „pyramidales“ Training verfolgen. Bei diesem Ansatz entfällt der größte Anteil des Trainings auf Zone 1, gefolgt von Zone 2 und schließlich Zone 3. Diese Verteilung widerspricht dem Prinzip des polarisierten Trainings, bei dem Zone 2 minimiert werden soll. So zeigen Daten aus anderen Untersuchungen, dass Sportler zwar 75 % ihrer Trainingseinheiten in Zone 1, 8 % in Zone 2 und 17 % in Zone 3 verbringen, die tatsächliche Zeitverteilung jedoch 91 % in Zone 1, 6 % in Zone 2 und nur 3 % in Zone 3 beträgt – ein klares Indiz für pyramidales Training.

Die Rolle von Zone 2

Zone-2-Training, oft auch als „Schwellen“- oder „Sweet-Spot“-Training bezeichnet, wird in der polarisierenden Diskussion oft zu Unrecht als ineffektiv oder gar kontraproduktiv dargestellt. Die Autoren betonen hingegen, dass Training in Zone 2 eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Ausdauerleistung spielt. Diese Intensität bietet einen starken aeroben Trainingsreiz, ohne die muskuläre Homöostase so stark zu stören wie hochintensives Training in Zone 3. Insbesondere für Wettkämpfe, die in der sogenannten „schweren“ Intensitätsdomäne (25 Minuten bis 3 Stunden Dauer) liegen, ist Zone-2-Training entscheidend, um spezifische physiologische und biomechanische Anforderungen zu simulieren.

Wissenschaftliche Evidenz

Ein weiterer Kritikpunkt der Autoren ist das Fehlen robuster wissenschaftlicher Belege für die Überlegenheit des polarisierten Trainings. Viele Studien, die für polarisiertes Training sprechen, weisen methodische Schwächen auf. Beispielsweise wird in einigen Experimenten Zone 3 im Schwellentrainingsprotokoll komplett ausgeschlossen, wodurch ein fairer Vergleich mit polarisiertem Training nicht möglich ist. Andere Studien klassifizieren beide Testgruppen als pyramidal, obwohl sie als „polarisiert“ beschrieben werden.

Die Autoren argumentieren, dass die günstigen Ergebnisse des polarisierten Trainings oft auf spezifische Umstände zurückzuführen sind, etwa die Anpassung an Zone-3-Training während einer Tapering-Phase vor dem Wettkampf. Solche kurzfristigen Vorteile sollten jedoch nicht mit der langfristigen Effektivität eines gesamten Trainingsmodells verwechselt werden.

Der Mythos der „optimalen“ Verteilung

Die Autoren betonen, dass es keine universelle, „optimale“ Trainingsintensitätsverteilung gibt. Stattdessen sollte die Verteilung individuell auf den Athleten, die Wettkampfanforderungen und die verfügbare Trainingszeit abgestimmt werden. Die Idee, dass polarisierte Trainingsmodelle überlegen seien, basiert oft auf selektiven Interpretationen und dem sogenannten „Survivorship Bias“, bei dem erfolgreiche Athleten als Beweis für die Wirksamkeit eines Ansatzes herangezogen werden, während gescheiterte Beispiele ignoriert werden.

Fazit

Polarisiertes Training mag in bestimmten Situationen Vorteile bieten, ist jedoch keineswegs ein Allheilmittel für Ausdauersportler. Vielmehr spricht die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass pyramidale Trainingsansätze – mit einem ausgewogenen Einsatz von Zone-1- und Zone-2-Training – die effektivste Strategie für die meisten Athleten darstellen. Wie Autoren treffend zusammenfassen: „Ein ausgewogenes Trainingsprogramm sollte die strategische Bedeutung von Zone-2-Training schätzen und in einem variablen, gut abgestimmten Gesamtplan integrieren.“

Dieser Beitrag zeigt, wie wichtig eine differenzierte Betrachtung von Trainingsmodellen ist und dass vermeintliche Trends oft einer kritischen Überprüfung bedürfen. Für Trainer und Athleten gilt es, die individuelle Eignung verschiedener Ansätze zu prüfen und die Trainingsgestaltung an spezifische Ziele und Anforderungen anzupassen.

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