Das Paradox des lockeren Trainings

Ein Blick in die Trainingsprotokolle von Radprofis, Marathonläufern oder Skilangläufern offenbart ein klares Muster: Bis zu 90 % des Trainingsumfangs finden im niedrigen Intensitätsbereich statt. Für Außenstehende ist das schwer nachvollziehbar. Schließlich gilt das Prinzip der Überlastung: Nur wenn das Herz-Kreislauf-System und die Muskulatur stark beansprucht werden, kommt es zu Anpassungen.

Doch die Praxis zeigt: Die besten Athleten der Welt investieren unzählige Stunden in Low-Intensity-Training. Pekka Matomäki (2025) hat in einem Übersichtsartikel sieben mögliche Erklärungen dafür zusammengetragen. Gemeinsam ergeben sie ein Bild, das zeigt, warum Low-Intensity-Training eine zentrale Rolle im modernen Ausdauertraining spielt.


1. Leistungs-Erhalt ohne Überlastung

Physiologische Grundlage:
Nach intensiven Einheiten kann die vollständige Erholung des autonomen Nervensystems über 48 Stunden dauern (Stanley et al. 2013). Daraus ergibt sich eine natürliche Begrenzung: Mehr als zwei bis drei hochintensive Einheiten pro Woche sind kaum sinnvoll.

Rolle des Low-Intensity-Trainings:
Lockeres Training hingegen verursacht eine viel geringere Belastung auf Herzfrequenzvariabilität, hormonelles System und Muskelschädigung. Schon nach wenigen Stunden ist der Körper wieder vollständig regeneriert. Das ermöglicht es Athleten, hohe Trainingsumfänge zu sammeln, ohne die Erholung zu gefährden.

Wissenschaftliche Beobachtung:
Studien zeigen, dass Low-Intensity-Training zwar weniger akute Leistungssteigerungen bewirkt, aber dennoch messbare Verbesserungen erzielt – insbesondere bei Ausdauerparametern wie Bewegungsökonomie und Kapillardichte. Damit ist es nicht nur „Fülltraining“, sondern eine effiziente Möglichkeit, die Belastbarkeit dauerhaft hochzuhalten.


2. Andere Anpassungswege im Körper

Molekulare Mechanismen:
Ein zentrales Ziel des Ausdauertrainings ist die Mitochondrienbiogenese – also die Vermehrung und Optimierung der „Kraftwerke“ in den Muskelzellen. Ausgelöst wird dieser Prozess durch den Transkriptionsfaktor PGC-1α, der über verschiedene Signalwege aktiviert werden kann.

  • High-Intensity-Training setzt vor allem auf Stoffwechselstress und Energiemangel.
  • Low-Intensity-Training könnte hingegen über Fettsäure-Oxidation und Kalziumflüsse ähnliche Prozesse in Gang setzen (Hoppeler 2016).

Bedeutung für die Praxis:
Diese Diversifizierung der Signale könnte erklären, warum Athleten durch eine Kombination aus intensiven und lockeren Reizen die bestmögliche Anpassung erreichen. Es ist nicht „entweder oder“, sondern ein komplementärer Mechanismus.


3. Strukturelle Veränderungen über Jahre

Langfristige Adaptionen:
Während viele Trainingsstudien nur wenige Monate dauern, zeigen Querschnittsuntersuchungen, dass mehrjährige Trainingsumfänge zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen führen:

  • Herzanpassung: Profis weisen eine vergrößerte linke Herzkammer auf – ein Zeichen langfristiger Volumenbelastung (Abergel et al. 2004).
  • Kapillarisierung: Durch gleichmäßige Belastung entsteht ein dichteres Netz an Blutgefäßen, was die Sauerstoffversorgung verbessert.
  • Muskelfaser-Verschiebung: Über Jahre nimmt der Anteil der langsamen, ermüdungsresistenten Fasern zu, die für Ausdauersportarten optimal sind.
  • Mitochondriale Masse: Während Intervalle die Effizienz einzelner Mitochondrien steigern, sorgt hoher Umfang für eine Vergrößerung der Gesamtmasse (Bishop et al. 2014).

Implikation:
Die Summe dieser Anpassungen führt dazu, dass Spitzensportler nicht nur „fitter“, sondern strukturell andere Athleten sind als Amateure. Low-Intensity-Training liefert hierfür die notwendige Grundlage.


4. Einfluss auf bislang unentdeckte Faktoren

Unbekannte Dimensionen:
Die klassische Leistungsdiagnostik konzentriert sich stark auf VO₂max. Doch Ausdauerleistung hängt auch von weniger erforschten Parametern ab: Durability, Bewegungsökonomie, Fettstoffwechsel.

Neue Erkenntnisse:

  • Hohe Low-Intensity-Umfänge sind mit besserer Ermüdungsresistenz verknüpft (Spragg et al. 2023).
  • Auch die Regenerationsfähigkeit könnte profitieren: Wer regelmäßig lockere Reize setzt, erholt sich schneller von härteren Belastungen.

Fazit:
Low-Intensity Training könnte Anpassungen anstoßen, die bisher schwer messbar sind – und damit eine stille, aber entscheidende Rolle spielen.


5. Psychologischer Nutzen

Belastungssteuerung für den Kopf:
Training ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine mentale Herausforderung. Studien zeigen, dass Low-Intensity-Training akute Stimmungsverbesserungen hervorrufen, während intensive Belastungen kurzfristig die Stimmung verschlechtern können (Berger & Motl 2000).

Mentaler Ausgleich:
Für Athleten mit 15–25 Trainingsstunden pro Woche wäre ein ausschließlich intensives Programm psychologisch nicht durchzuhalten. Low-Intensity-Training schafft den nötigen Ausgleich, reduziert mentale Ermüdung und erhält die Motivation über lange Zeiträume hinweg.


6. Verstärkung intensiver Trainingseffekte

Kombinationseffekt:
Reine Intervallprogramme sind bei untrainierten und moderat trainierten Personen weniger effektiv als eine Mischung aus Basis und Spitzenreizen. Low-Intensity-Training scheint die Aufnahmefähigkeit des Körpers für harte Einheiten zu erhöhen.

Mechanismus:
Die Hypothese: Der Körper „wehrt“ sich weniger gegen hohe Belastungen, wenn er durch ein hohes Grundlagenniveau vorbereitet ist. Anders gesagt: Erst die Basis macht die Spitze möglich.


7. Oder doch ersetzbar?

Kontroverse Hypothese:
Manche Forscher argumentieren, dass Low-Intensity-Training durch clever gesteuertes Hochintensitäts-Training ersetzt werden könnte – vorausgesetzt, Erholung und Ernährung stimmen.

Risiken:

  • Übertraining: Ohne Pausen droht chronische Ermüdung.
  • Verletzungen: Höhere Spitzenbelastungen erhöhen das Risiko von Überlastungsschäden.
  • Mentale Erschöpfung: Ein dauerhaft „hartes“ Programm ist schwer durchzuhalten.

Ergebnis der Forschung:
Bisher gibt es keine klaren Belege dafür, dass ein Intervall-fokussiertes Programm langfristig überlegen ist. Daher bleibt Low-Intensity-Training die bevorzugte Methode im Hochleistungssport.


Was heißt das für Freizeitsportler?

Für Einsteiger gibt es kein Paradox: Schon lockeres Training steigert VO₂max und Herzschlagvolumen spürbar. Anders als Profis müssen Hobbyläufer oder Radfahrer nicht an die Grenzen gehen, um Fortschritte zu sehen.

Zusätzlich erfüllt Low-Intensity-Training wichtige Funktionen:

  • Gesundheit: Reduziert Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
  • Nachhaltigkeit: Geringeres Verletzungsrisiko als bei zu viel Intensität.
  • Spaß und Motivation: Erhöht die Wahrscheinlichkeit, langfristig dranzubleiben.

Fazit: Ein Mosaik an Gründen

Warum trainieren Spitzensportler so viel locker? Weil es in Summe mehrere Vorteile kombiniert:

  • Schonung der Erholung
  • alternative molekulare Signalwege
  • langfristige strukturelle Anpassungen
  • psychologische Entlastung
  • Verstärkung intensiver Reize

Vielleicht ist Low-Intensity-Training nicht in jedem Aspekt unersetzlich. Doch solange es in der Praxis so zuverlässig wirkt, bleibt es die tragende Säule im Ausdauertraining – für Profis wie für ambitionierte Freizeitsportler.

Weitere interessante Einblicke zum Thema niedrige Intensität bietet der Artikel „Zone-2-Training: Der unterschätzte Schlüssel zu mehr Leistungsfähigkeit“, der zeigt, wie gezieltes Training in der Zone 2 die Ausdauer nachhaltig steigern kann.


👉 Takeaway für dich: Wenn du deine Ausdauer verbessern willst, solltest du nicht jeden Tag Vollgas geben. Die Basis aus Low-intensity-Training ist der Schlüssel – sie bereitet deinen Körper und Geist darauf vor, harte Reize optimal zu nutzen.

Quellen

  1. Abergel, F., Chatellier, G., Hagege, A. A., Oblak, A., Linhart, A., Ducardonnet, A., & Diebold, B. (2004). Serial left ventricular adaptations in world-class professional cyclists: Implications for disease screening and follow-up. Journal of the American College of Cardiology, 44(1), 144–149. https://doi.org/10.1016/j.jacc.2004.03.050
  2. Berger, B. G., & Motl, R. W. (2000). Exercise and mood: A selective review and synthesis of research employing the Profile of Mood States. Journal of Applied Sport Psychology, 12(1), 69–92. https://doi.org/10.1080/10413200008404214
  3. Bishop, D. J., Granata, C., & Eynon, N. (2014). Can we optimise the exercise training prescription to maximise improvements in mitochondria function and content? Biochimica et Biophysica Acta (BBA) – General Subjects, 1840(4), 1266–1275. https://doi.org/10.1016/j.bbagen.2013.10.012
  4. Hoppeler, H. (2016). Molecular networks in skeletal muscle plasticity. Journal of Experimental Biology, 219(2), 205–213. https://doi.org/10.1242/jeb.128207
  5. Matomäki, P. (2025). Why low-intensity endurance training for athletes? European Journal of Applied Physiology. https://doi.org/10.1007/s00421-025-05843-w
  6. Spragg, J., Aubry, A., Hausswirth, C., & Millet, G. P. (2023). Durability in endurance sports: Definition, assessment, and future directions. Sports Medicine, 53(6), 1143–1156. https://doi.org/10.1007/s40279-023-01796-7
  7. Stanley, J., Peake, J. M., & Buchheit, M. (2013). Cardiac parasympathetic reactivation following exercise: Implications for training prescription. Sports Medicine, 43(12), 1259–1277. https://doi.org/10.1007/s40279-013-0083-4